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Interview

Die Sache kommt nicht aus der Literatur, sie kommt aus der Existenz des ganzen Menschen ...

Gespräch mit Christoph Meckel vom 8. 7. 2006

Viktor Kalinke: Ich habe gehört, daß Sie in früheren Jahren sehr viel gereist sind, auf mehreren Kontinenten unterwegs waren. Wo haben Sie in dieser Zeit geschrieben? Schon unterwegs, in Wartezeiten, auf Knien? Oder ist an den verschiedenen Orten erst einmal eine Spur im Gedächtnis entstanden, die sich dann zu Hause zum Text gefügt hat?

Christoph Meckel: Das tatsächliche Arbeiten ist ein täglicher Vorgang, der mit Handwerk und Raum zu tun hat. Ich brauche für mein Handwerk einen guten Raum. Das betrifft vor allem die Prosa, die Gedichte werden anders gemacht. Aber wenn ich Prosa schreibe, dann dauert das ein halbes Jahr länger. Da brauche ich jeden Tag denselben Raum. Ich brauche eine gewisse Ruhe, und die habe ich nicht unterwegs in Hotels oder auf Schiffen. Die Gedichte entstehen anders, sie werden notiert und in meinem Fall jahrelang in die Tasche gesteckt und mitgenommen. Ich habe selten ein Gedicht gleich am ersten oder zweiten Tag fertig. Das Reisen oder vielmehr das Unterwegssein – ich bin nie gereist, ich bin immer unterwegs gewesen, das ist ein großer Unterschied – mein Unterwegssein und mein Gedichtemachen begannen in einer vortouristischen Zeit, nach dem zweiten Weltkrieg. Das ist ein großes Glück gewesen, daß ich das gekannt habe, per Autostop durch Europa. Es ist ein Unterschied des Handwerks, des Raumes und der Zeit. Die zusammenhängende Zeit ist nötig, und die hatte ich vor allem in Frankreich. Manchmal auch in kalten Wintern zurückgezogen in Berlin. Aber vor allem in Frankreich im Gebirge, wo ein Leben mit Bauern geteilt werden kann, die auch arbeiten. Sie arbeiteten draußen in den Feldern – dans la terre – wie sie sagten, und ich arbeitete drinnen im Haus. Das war eine wunderbare Gleichzeitigkeit der Arbeit. Der Schriftsteller und der Bauer sind sehr stark im Handwerk drin, sehr lebendig, und sind beide respektiert vom anderen. Wer arbeitet wird respektiert. Als ich dort nach Frankreich kam und vom Drucken, von der Druckerschwärze, schwarze Hände hatte, sagte mir ein Bauer in der Bar: „Was ist denn los, wieso kommen sie denn mit schwarzen Händen her?“ Und ich sagte, ich hätte gearbeitet, ich hätte gedruckt. „Ach“, sagte er „Sie arbeiten“, und da waren wir schon befreundet.

Viktor Kalinke: Diese Akzeptanz als „Arbeiter“, die ist als Drucker, als Radierer einfacher zu erlangen denn als Dichter oder Schriftsteller?

Christoph Meckel: Ja, der Drucker ist sichtbar, es ist sichtbar, was er macht, eben z.B. an den schwarzen Händen. Oder er kauft Terpentin und Säure. Die Leute sehen, daß ich Dinge ins Haus bringe, die sie nicht brauchen, nicht kennen, die ich aber brauche und das respektieren sie. Das Schreiben oder das Ergebnis des Schreibens und die Umstände des Schreibens sind unsichtbar. Der Schriftsteller hat kein vorzeigbares Handwerk. Er hat seine Schreibmaschine oder seinen Computer oder auch nichts von beidem. Vor allen Dingen: der Lyriker braucht nichts außer seiner Handschrift.

Viktor Kalinke: Gibt es, wenn Sie zurückblicken auf die frühen Texte, Anlässe, die Sie immer wieder gereizt haben zum Schreiben? Motive, die wiederkehren? Situationen, die nicht aus Ihrem Kopf verschwunden sind, an die Sie sich immer wieder von einer anderen Richtung angenähert haben?

Christoph Meckel: Ja natürlich. Es gibt in meiner Literatur wie auch in meiner Grafik und in meinen Bildern bestimmte Figuren, die immer wieder kommen. Z.B. Moel, Balsam – diese ganze Reihe von Kunstfiguren, die ich gemacht und erfunden habe. Auch Trillnas, Stiefbein u.a.. Das sind Figuren, die durch das ganze Werk gehen. Gerade im vergangenen Winter habe ich wieder eine Figur geschrieben, die heißt Windig. Das sind Fixpunkte, die das einzelne Leben, den einzelnen Menschen zeigen in seinem Unterwegssein. Es gibt selbstverständlich auch bestimmte Worte, die immer wieder kommen. Das ist bei mir z.B. der Kirschbaum. Ich bin unter Kirschbäumen oder mit Kirschbäumen aufgewachsen, hier im Süden Deutschlands. Die Kirsche ist für mich die herrlichste Frucht. Es ist die Frucht des Juni, wie die Rose und der Mohn die Blumen des Juni sind. Ein Kritiker fragte mich: „Sagen Sie mal, Herr Meckel, wo haben Sie eigentlich den Kirschbaum her?“ Hätte ich geantwortet, daß ich den aus dem Kirschgarten von Tschechow habe, dann hätte ihn das sehr interessiert. Aber ich sagte ihm, er komme aus meiner Kindheit, ich liebe Kirschbäume, weil ich mit ihnen lebte, und er sagte: „Ach so.“ Da liegt genau der Punkt. Die Sache kommt nicht aus der Literatur – obwohl sie auch aus der Literatur kommen kann, selbstverständlich – sie kommt aus der Existenz des ganzen Menschen oder aus der ganzen Existenz des Menschen.

Viktor Kalinke: Das führt mich schon fast zwangsläufig zu meiner nächsten Frage. Was ist für Sie der Anfangspunkt des Schreibens gewesen? Welches Motiv, welche „Notdurft“, hat sie dazu gebracht, den Stift in die Hand zu nehmen, den vielleicht etwas verrückten Versuch zu beginnen, dichterisch zu schreiben? Auch über die Pubertät hinaus dabei zu bleiben. Denn in der Jugendzeit schreiben ja sehr viele Leute Gedichte.

Christoph Meckel: Es ist bei mir wohl so gewesen, daß Sprache das Absolute für mich war, schon als Kind. Ich habe nie Schreiben gelernt und ich habe auch nie mit Schreiben begonnen. Ich habe schon als Kind Gedichte gemacht, die mein Vater dann notierte. Und das waren erstaunlich schöne reine Gebilde, die ich heute nicht mehr zustande bringen könnte. Ich habe nie wirklich angefangen, bin dann aber in Prozesse hineingeraten, Prozesse des Lebens und des Schreibens, die mir nahelegten doch nun darauf zu achten was ich mache. Meine Absicht war nie dichterisch zu schreiben, als Schriftsteller zu schreiben, das ist für mich völlig bedeutungslos. Ich wußte immer, daß der Text den ich mache, egal ob Gedicht oder Prosa, mit mir übereinstimmen muß, und ich muß mit der Sache einverstanden sein. Ganz egal was andere dazu sagen. Ich bin derjenige, der von der eigenen Sache überzeugt sein muß. Wenn ich das bin, wird sie auch andere überzeugen können. So fing das im Grunde an. Ich habe dann meine Arbeit von den pubertären und anfänglichen Unsicherheiten und Schwankungen gereinigt. Ich brauchte viele Jahre, mindestens drei oder vier, um das Zeichnen vom Schreiben unterscheiden zu können. Ich glaube, daß ich am Anfang Bilder geschrieben und Gedichte gezeichnet habe. Verstehen sie? Die Identitäten waren nicht klar, die Zuständigkeiten waren noch nicht geläutert, noch nicht im Bewußten wie im Unbewußten festgesetzt. Da mußte viel getan werden, das dauerte viele Jahre, aber ich nehme an, daß ich diese Schwierigkeiten mit anderen teile.

Viktor Kalinke: Das ist ein Thema, auf das ich später noch einmal zurückkommen möchte, weil diese Wechselbeziehung zwischen dem Bild auf dem Papier und dem Bild im Kopf, das dann in Sprache übergeht, eine sehr interessante, wechselseitige Befruchtung ist.

Christoph Meckel: Ja, aber sie ist unter Umständen auch verhindernd.

Viktor Kalinke: Jetzt möchte ich gern noch wissen, welche Brüche es in ihrer Biographie gibt, die auch zum Reifen des Schreibens beigetragen haben. Ein glatter Lebenslauf, eine idyllische Kindheit trägt ja in der Regel nichts zum tieferen Empfinden oder zur tieferen Wahrnehmung der Welt bei. Welche Brüche waren wichtig für Sie, an denen das Schreiben reifer werden konnte?

Christoph Meckel: Nun, solche Brüche gab es ununterbrochen und gibt es heute noch. Aber es sind nicht Brüche, die mit etwas Zerbrochenem zu tun haben, sondern es sind Wandlungen und auch Verwandlungen bewußter und unbewußter Art. Ich glaube, daß meine Arbeit persönlich wurde in dem Moment als ich begriff, daß ich meine Biographie akzeptieren muß. Wenn man das nicht tut, trampelt man im Vakuum oder in Zwischenbildern herum und kommt nicht zu sich selbst. Und ich muß sagen, dieser Moment, die eigene Biographie zu akzeptieren, war bitter für mich. Und diese Bitternis war lebensnotwendig für mich. Die Biographie zu akzeptieren heißt, daß ich akzeptieren mußte ein Deutscher zu sein. Daß ich meine Herkunft, diese Großväter-, diese Mütter-, diese Vätergeschichte, diese ganze furchtbare, widerwärtige Herkunft, aus der ich stamme, das deutsche Bürgertum, akzeptieren mußte. Und nur dadurch wurde ich stärker, das ist ganz einfach.

Viktor Kalinke: Welche Rolle hat das Schreiben für Sie gespielt in diesem Prozeß des Akzeptierens der eigenen Herkunft, der eigenen Biographie?

Christoph Meckel: Das Schreiben war meine Sache, ganz einfach, unangreifbar, durch jeden und durch nichts angreifbar. Ich war vollkommen dazu entschlossen und habe nie anders gelebt, als meine Sache ohne jede Einschränkung durchzuziehen. Ich habe mir nichts einreden lassen, nichts ausreden lassen. Ich habe Wert darauf gelegt, zu wissen und immer wieder erneut zu erfahren, daß ich gleichweit entfernt von Bejahung und Verneinung anderer, von Erfolg oder Mißerfolg arbeite und lebe. Frei.

Viktor Kalinke: Ich habe bei der Lektüre den Eindruck, daß in der Lyrik und auch auf vielen grafischen Blättern ein beinahe kindlich verspieltes Moment von Bedeutung ist. Damit meine ich nicht das raffinierte Spiel, wie es Erwachsene treiben, z. B: Roulette oder Skat oder Poker, der Innbegriff des raffinierten Spiels, sondern ein unschuldig zu nennendes Spiel mit Märchenfiguren, oder pinoccioesken Figuren, Kobolden, die mir auch in Ihrer Lyrik begegnen. Wohingegen in der Prosa, zumindest in einigen Texten, etwas Analytisches, Essayistisches enthalten ist, z.B. in Suchbild mein Vater, das Sie angesprochen haben mit der Biographie. Inwiefern ist dieses kindhaft Verspielte beim Dichten, so würde ich es mal provisorisch nennen, an der Rettung der eigenen Biographie beteiligt?

Christoph Meckel: Nun das Spiel, die mögliche Heiterkeit darin ist für mich natürlich, selbstverständlich. Ich frage gar nicht danach, was das zu bedeuten hat. Das ist das Beste, was ich tun kann. Es ist einfach da und ich habe das Glück dadurch lachen gelernt zu haben, das war für mich sehr wichtig. In diesem Weltwahnsinn zu existieren ist ohne Lachen, nicht Gelächter, das ist wieder etwas anderes – nicht möglich. Und ich glaube, daß gerade die Heiterkeit und das Spiel die Möglichkeiten sind, die zum Überleben führen können. Es ist schon sehr gut, wenn man eine Tragödie, die man vielleicht in der Erfahrung, der Welterfahrung besitzt, allmählich in eine Komödie verwandeln kann. Auch der Titel meines großen Grafikepos ist Weltkomödie. Die Komödie ist die stichhaltigere Kategorie, weil sie die Tragödie selbstverständlich enthält. Die Komödie ist eine Schlupfwespengeschichte. Die Schlupfwespe, das kennen sie sicher, schlüpft in Tiere hinein, höhlt sie aus, frißt sie auf und bleibt darin verborgen. Und so ist in der Komödie die Tragödie verborgen, es ist ein Gelächter darüber, es ist auch Freude.

Viktor Kalinke: Sie sprachen vorhin von der Schwierigkeit, die Bilder und die Sprache voneinander zu trennen und jedem eine Zuständigkeit zuzuordnen. Inwiefern greift das Arbeiten mit Bildern, das Bilderschaffen mit dem Schreiben ineinander?

Christoph Meckel: Ich halte sie auseinander. Ich habe zwei voneinander getrennte Hauptberufe, die jeweils eine ganz eigene Art des Arbeitens mit sich bringen. Beispielsweise ist in der Grafik, im Zeichnen, in der Radierung der ganze Körper beteiligt. Beim Schriftsteller ist das nicht der Fall. Er kann zwar im Zimmer auf und ab gehen während er denkt, aber im großen und ganzen sitz er da, tut nicht viel. Also es sind ganz verschiedene Techniken, Zuständigkeiten und Lebensweisen, die durch die beiden Berufe gegeben sind. Was das Schreiben angeht ist es das schwierigere. Im Zeichnen ist schon immer etwas da bevor ich anfange. Ich habe Terpentin, Ölfarben, Lacke, es sind Flecken auf dem Papier, davon kann ich ausgehen. Ich bin unglaublich reich im Zeichnen, weil das Material mir entgegenkommt. In der Sprache ist es so, daß ich jedes Wort erstmal festmachen muß, ich muß es überhaupt erst zu packen kriegen. Ich muß mir einen Grund für mein Gedicht erarbeiten. Das ist eine Sache des Traums und der Erfahrung. Es ist überhaupt so, daß das Nichtarbeiten, das Nichtschreiben eine unbegrenzte Zeit braucht – ich glaube ich habe das schon mal aufgeschrieben – während das Arbeiten selbst eine begrenzte Zeit braucht. Die unbegrenzte Zeit ist das Notwendige für mich.

Viktor Kalinke: Unabhängig davon, ob Sie zeichnen oder schreiben?

Christoph Meckel: Ja. Ich glaube, daß man, wenn man schreibt, sein Gedicht auch in Ruhe lassen muß. Es ist außerordentlich wichtig, daß ich im Gedicht allmählich ein Gegenüber schaffe, das mir antwortet. Und das braucht Zeit. Zeit ist der große Faktor in diesem abgründigen Spiel.

Viktor Kalinke: Einige Figuren, die in den Graphikzyklen auftauchen, Moel z.B., tauchen ja auch in Texten auf, in Gedichten. Werden dort namentlich erwähnt. Inwiefern gibt es einen Dialog zwischen den beiden getrennten Hauptberufen? Gibt es da eine Traumbrücke oder eine Brücke über das Unbewußte? Wo rufen sie sich etwas zu?

Christoph Meckel: Ich glaube, die Sache ist wiederum ganz einfach. Das Verbindende bin ich selbst. Es ist derselbe Mensch, der diese beiden Dinge macht. Und da kommen in beide Teile, in beide Hauptberufe, eben die Nerven dieses einen Menschen, die Denkweisen dieses einen, die sich im Bild anders als in der Sprache ausdrücken, aber sie drücken sich in beiden Hauptberufen aus. Also der ganze Mensch ist in beiden Teilen gegenwärtig. Daß ich dann die beiden Teile verbinden kann, ist mein Glück. Ich habe es in verschiedenen Mappen gemacht, daß ich Text und Bild vereint habe. Das ist keineswegs eine Sache der Absicht, es ergibt sich einfach. Und wichtig dabei ist, daß weder das Bild den Text illustriert noch umgekehrt. Es darf keine Illustration sein, es ist keine Illustration, sondern es ist ein wunderbares Spiel, eine Balance, ein Equilibre zwischen diesen beiden Möglichkeiten und das ist fast das schönste, was ich mit mir selbst erlebt habe.

Viktor Kalinke: Wir haben vorhin angedeutet, und ich habe es auch in verschiedenen Äußerungen anläßlich Ihrer Ausstellungseröffnungen gelesen, daß Sie die Arbeit beim Radieren als körperlichen Vorgang empfinden. Es ist eine anstrengende Tätigkeit, kräftezehrend, die Spuren hinterläßt. Meine Frage bezieht sich jetzt auf die Dichtung. Inwiefern ist sie für Sie ein Ausdruck für Sinnlichkeit, Körperlichkeit, bis hin zur Geschlechtlichkeit?

Christoph Meckel: Die Dichtung ist eine durch und durch erotische Angelegenheit. Auf ein Wort einzugehen, mit diesem Wort zu spielen, zu arbeiten, das ist ein Vorgang von Liebe und Haß. Das ist eine ganz komplexe Geschichte. Das Wort ist ein Gegenüber, mit einer unglaublichen Übermacht, die auch dadurch so rätselhaft wirkt, daß ich sie ja selber schaffe. Ich schaffe mir ein Gegenüber in der Sprache durch das Wort, bzw. durch die kleinste Einheit. Das ist der Hauch, und dann ist es der einzelne Buchstabe, dann kommt die Silbe, und das baue ich auf bis zu Sätzen, Strophen oder Absätzen in der Prosa und schließlich bis zu einem Buch, bis zu einem Kompendium oder einem Zusammenhang. Das sind abgründige Vorgänge, und um das machen zu können brauche ich die Handschrift. Ich könnte also niemals an der Schreibmaschine oder am Computer schreiben. Ich brauche meine Handschrift. Zum einen weil ich Zeichner bin, aber zum anderen, weil ich mich nur handschriftlich des Buchstabens wirklich vergewissern kann. Ich komponiere jeden Buchstaben, das ist meine elementare Basis, mein Grundstein in der Arbeit.

Viktor Kalinke: Wann hören Sie auf, an einem Gedicht zu arbeiten, wann ist für Sie der Text in eine fertige Form gebracht?


Christoph Meckel: Das weiß ich nicht, das ist mit jedem Gedicht und mit jeder Prosa vollkommen verschieden. Manchmal dauert so eine Sache zehn Jahre, hat siebzig Fassungen, bis ich mir dann sage: jetzt kann ich die Sache nur noch unklarer machen, ich höre also auf. Ich bin immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Vollendung nicht gibt und auch gar nicht zu geben braucht. Vollendung ist nicht ein Argument im Schaffen von Formen. Es ist eher die Zuständigkeit, die Schlüssigkeit, und daß es unbezweifelbar ist in seiner Substanz, in seinem Ton, in seiner Musik, für mich selbst zunächst, wie ich schon sagte, und damit auch für den anderen.

Viktor Kalinke: Sie haben sehr viel publiziert, schon in jungen Jahren begonnen. Wenn ich mich nicht täusche, ist das erste Buch 1956 erschienen. Wie schauen Sie jetzt, mit dem Abstand vieler Jahre, auf diese erste Publikation, auf dieses Debüt zurück? Können Sie das noch vertreten, oder ist es ganz weit versteckt in der zweiten Reihe des Regals?

Christoph Meckel: Man soll mit den Anfängen nicht stiefväterlich umgehen. Es steckt in diesen allerersten Gedichten, die ich veröffentlichte, sehr viel von mir selbst drin. Das Büchlein – es war kein Buch – ist eine ganz rührende kleine Broschüre gewesen, die in einem Studentenverlag an der Universität München erschien. Das waren sieben Gedichte und vier Radierungen. Ein ganz schmales Ereignis. Und ich bin froh, daß ich es heute noch zur Kenntnis nehmen kann. Ich bin froh, daß dieses kleine Grundsteinchen sich als erstaunlich haltbar erwiesen hat, zumindest für mich selbst.

Viktor Kalinke: An welchen Vorbildern haben Sie sich literarisch, dichterisch orientiert? Wer war wichtig für Sie von den lebenden oder nicht mehr lebenden Autoren?

Christoph Meckel: Lieber Viktor, darauf gibt es keine Antwort von mir. Ich glaube nicht an Einfluß und Beeinflußtsein und ich glaube auch nicht an Vorbilder. Ich glaube aber und weiss, daß es eine Geschwisterschaft in der Dichtung gibt, die durch die Jahrtausende geht. Wie Oskar Loerke gesagt hat: er kenne oder habe Zeitgenossen aus vielen Zeiten. Das sind bei mir die Chinesen, da fängt es an, oder vielleicht wunderbare alte Runenschriften aus dem Asiatischen. Das kann Walt Whitman sein oder Trakl, aber das sind zwei zufällige Namen. Es sind unendlich viele, es ist die ganze Welt, es ist die ganze Literatur, die mich begeistert hat. Das kommt vielleicht daher, daß ich als Kind im zweiten Weltkrieg aufgewachsen bin und nur Deutsches kannte. Und nach 1945, im Alter von zehn Jahren, kam die Welt. Einer der großen Tage meines Lebens war als ich den ersten Neger sah – damals hieß das noch Neger – und da begriff ich, daß es eine Welt gibt, und ich kann das alles, was ich erlebt habe, Deutschland nämlich, und die Nazis und diesen ganzen Kram, das kann ich hinter mir lassen. Und da habe ich mich in die Welt gestürzt mit großer Liebe und großer Offensivkraft, die schon unvergleichlich gut war. Daher kommt meine Kenntnis der Dichtung und es war mein Wunsch und mein Wille, alles im Grunde zu kennen. Natürlich ging ich von der deutschen Sprache aus, ist ja ganz klar. Aber ich kann nicht sagen, daß ich einzelne Vorbilder hatte. Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte. Im verglasten Bücherschrank meines Großvaters in Erfurt, dieser Großvater war ein Muffel ohnegleichen, stand das damals allgegenwärtige und immer gültige Fundamentbuch der deutschen Poesie, der olle Echtermeier. Das war ein Buch von achthundert Seiten und es war eingeteilt in Liebe und Ehe, Vaterland, Krieg und Frieden, Natur, Liebe. Am Schluß kam dann noch eine Kategorie, die hieß Heiteres und Besinnliches und die wurde damals von Willhelm Busch beherrscht. Ich hatte bis dahin Prosabücher gelesen, aber noch nie eine Anthologie. Ich fing an diese Anthologie wie einen Roman zu lesen. Von Anfang an war ich stark befremdet und doch völlig überzeugt daß das stimmt, und so hatte ich diese Anthologie vom vorne bis hinten durchgelesen. So hatte ich gleich einen kindlichen aber doch totalen Eindruck von der deutschen Dichtung.

Viktor Kalinke: Ich bin an dem Wort „Neger“ hängengeblieben. Das war sicherlich beeindruckend in der damaligen Zeit. Und ich habe noch an etwas anderes gedacht, nämlich daß in der bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Afrika eine zentrale Rolle für die Westeuropäer gespielt hat, für die Spanier und die Franzosen, auch für die Deutschen war Afrika die Erleuchtung. Beispielsweise für manche Kubisten und Expressionisten. Hatte Afrika eine vorbildhafte Wirkung auf Ihr Dichten, auf Ihr Schreiben?

Christoph Meckel: Nein, nicht vorbildhaft. Begeisternd und beunruhigend. Ich war mehrmals in Afrika, und ich würde am liebsten dort leben, aber das geht nicht, die Situation in Afrika ist ja zum Verzweifeln schrecklich, es ginge auch gesundheitlich nicht. Aber es ist ein Kontinent, den ich mit großer Faszination, aber auch mit Erschrecken erfahren habe. Ich war mehrmals in Nigeria und Senegal und bin da mit Autostop durchgefahren, habe das alles hautnah erlebt. Habe nachts auf den Pisten geschlafen, habe mir eine Malaria geholt usw. Ich habe sehr viele afrikanische Motive, sowohl in meinen Bildern als auch in der Dichtung. Es ist dort für mich eine Fülle sichtbar geworden, eine gefährliche Fülle. In Deutschland gibt es ja nichts Elementares. Aber da ist jeder Tag elementar, jeder Baum und jeder Mensch, das hat mich natürlich außerordentlich mitgenommen und mitgerissen. Die afrikanische Musik z.B. und die afrikanische Dichtung. Ich war mit afrikanischen Dichtern befreundet. Ich kannte Wole Soyinka als der dreißig Jahre alt war wie ich auch. Das waren Dialoge, die waren unglaublich, und die konnte man mit einem Weißen in dieser Weise nicht haben.

Viktor Kalinke: Das zieht sich auch durch die Texte durch, eine latente Melancholie, die bis hin zum permanenten Verdacht gehen kann. Auch ein Verdacht auf das Gesellschaftliche bezogen. Nämlich der Verdacht, daß mafiose Strukturen hinter vielem stecken können, was wir nach außen hin als harmlos erleben. Inwiefern ist die Dichtung für Sie eine Möglichkeit, nicht nur von sich selbst zu sprechen, sondern zur Gesellschaft zu sprechen?

Christoph Meckel: Nun, man sollte jedenfalls den Schriftsteller mit seiner Heiterkeit und seiner Melancholie in Ruhe lassen, das ist das eine. Das andere ist, es ist doch selbstverständlich, daß ein Schriftsteller nicht nur von sich selbst spricht. Er ist natürlich der Anfang seiner Arbeit, er ist der Motor der eigenen Arbeit, aber die ganze Welt kommt in diesen Motor hinein und dazu in gefährlichster Weise – Sie sehen, ich wiederhole das Wort gefährlich – in gefährdender und gefährlicher Weise die Politik. Für mich gehört die Beobachtung, die kalte und genaue Beobachtung der gesellschaftlichen Nichtzusammenhänge oder der forcierten Zusammenhänge und der Politik zu den Grundmöglichkeiten der Poesie. Es gibt ja in der Poesie nichts, was von ihr ausgeschlossen werden könnte. Ein Liebesgedicht, kann auch ein politisches Gedicht sein, und ein politisches Gedicht existiert nicht nur als politisches Gedicht, kann auch ein Naturgedicht oder ein Heimatgedicht sein. Poesie ist immer alles. Und in das Zentrum der Poesie gehört alles und eben auch die Politik. Ich bin kein parteipolitischer Mensch, das ist mir unmöglich. Meine Möglichkeiten sind anarchischer, bezweifelnder, böser.

Viktor Kalinke: Ich möchte noch mal auf dieses vermeintlich Mafiotische zurückkommen, das mir in Ihren Erzählungen häufiger begegnet als in den Gedichten. Zumindest in Ihrem letzten Erzählband, der bei Hanser erschienen ist, ist mir aufgefallen, daß es da etwas Verschwörerisches gibt, etwas Übermächtiges, das den Ausgangspunkt bildet, aber gar nicht genau geschildert wird. Es passiert, ist passiert und hat das Leben einer Figur oder zweier Figuren verändert. Inwiefern gründen diese Schilderungen auf real Erlebtem, inwiefern sind sie Phantasien?

Christoph Meckel: Nun ja, es gibt eigentlich keinen Unterschied zwischen Phantastischen oder Phantasiertem, aus der Luft Gegriffenem und Tatsächlichem, das mischt sich immer. Wenn ein Mensch „Ich“ sagt, spricht er von sich selbst, wenn er „Ich“ schreibt, hat er sich schon verwandelt, da ist er schon eine Gestalt, die er aus sich herausnehmen kann. Ich glaube, daß gerade der Schriftsteller in seiner notwendigerweise gesteigerten Erlebnisweise ganz und gar begreift, daß er in der Defensive steht, z.B. der Politik gegenüber, mit den ungeheuerlichen Machenschaften. Denken Sie an Stalinismus, ans dritte Reich, denken Sie an die lateinamerikanischen und afrikanischen Mord- und Totschlagsprozesse, die da stattfinden. Der Mensch erfährt die Defensive und das macht ihm Angst. Für mich ist eine Form des Glücks, nicht von politischer Macht beschlagnahmt zu werden. Und ich habe das Glück gehabt, meine Arbeit machen zu können, ohne ins Gefängnis zu kommen, ohne ein Bekenntnis ablegen zu müssen. Ich hatte letzten Endes, obwohl ich in Westberlin gelebt und sehr stark mit der DDR gerangelt habe, immer die Möglichkeit zu entkommen, und es mir gut gehen zu lassen. Ich konnte sagen, was ich wollte, oder nicht sagen, was ich nicht sagen wollte. Ich war vollkommen frei bzw. konnte mir diese Freiheit verschaffen.

Viktor Kalinke: Sie haben gerade von der Defensive des Schriftstellers der Politik gegenüber gesprochen. Inwiefern glauben Sie, hat das Dichten, die Dichtung in der Gegenwart eine gesellschaftliche Bedeutung, inwiefern spielt sie da eine Rolle, oder sollte sie spielen?

Christoph Meckel: Die Dichtung spielt eine ungeheure Rolle, aber nicht im Vordergrund und nicht mit der Wucht einer Bombe. Ich habe es einmal gesagt, die Dichtung ist im Vordergrund nichts, im Hintergrund alles. Ohne Dichtung wären wir nicht mehr am Leben. Die Dichtung hat eine Wirkung, die man mit Flußversickerungen vergleichen kann. Das Wasser ist unsichtbar, es ist aber da und es kommt an anderer Stelle wieder zum Vorschein. Das ist meine lebenslange Erfahrung, und die ist sehr gut, es gibt keine schlechten Zeiten für mich.

Viktor Kalinke: Welche Qualitäten braucht ein Text, um diese subversive Wirkung, die Sie in diesem Bild der Flußversickerung beschrieben haben, ausüben zu können? Nicht jeder Text wirkt auf diese Weise, wenn ich z.B. an manche Texte von Brecht denke, die parteipolitisch waren – ich mußte sie als Schüler lesen und sie haben genau das Gegenteil bewirkt, das „Lob des Kommunismus“ usw.

Christoph Meckel: … ja, furchtbar …

Viktor Kalinke: … während er andere Texte geklaut hat von François Villon, selbst die Übersetzungen hat er geklaut, von K. L. Ammer, der ja eigentlich Klammer hieß …

Christoph Meckel: … ja, ja, er hat gesagt, in Fragen geistigen Eigentums ist er ziemlich lax. Übrigens nebenbei, ich habe die „Hauspostille“ von Brecht illustriert, vor langer Zeit … es ging für mich darum: das mußte so gut werden wie Brechts Gedichte, oder es war nichts wert, und es ist mir glaube ich gelungen, diese anarchische Inhaltlichkeit von Brecht in den Bildern zu zeigen. Darüber bin ich heute noch froh. Aber das ist was anderes …

Viktor Kalinke: Welche Qualitäten gehören Ihrer Meinung nach zu einem poetischen Text, damit er subversiv wirken kann über den Mikrokosmos einer Ich-Du-Botschaft hinaus?

Christoph Meckel: Das weiß ich nicht, und dazu kann man auch wenig sagen. Man kann natürlich darüber Bücher schreiben, wenn man will. Ich nehme an es ist zu allererst eine gesamtmenschliche Zuständigkeit und auch eine ästhetische. Eine Lebendigkeit der Sprache selbst – die Tragfähigkeit der Sprache muß stimmen. Warum sind gute Gedichte vergessen worden? Alles in allem muß ein Gedicht – das ist nicht ein Gesetz, das ich aufstelle, sondern eines das aus der Kunst selbst kommt – ein Gedicht besser als gut sein.

Viktor Kalinke: Sie haben kurz erwähnt, daß Sie in Westberlin nah an der innerdeutschen Grenze gelebt und gewisse elementare Gefahren mitbekommen haben. Inwiefern war die Zweistaatlichkeit Deutschlands für Sie bedeutsam in der damaligen Zeit?

Christoph Meckel: Ja, ich wohnte in Westberlin und ich habe mich darauf eingelassen, wissen zu wollen, was die DDR ist, was Westberlin und Westdeutschland sind, und wie sich das reibt, und wie es zusammenhängt und nicht zusammenhängt. Ich war dauernd in der DDR und in Ostberlin – weil ich es eben wissen wollte. Hinzu kam, daß ich dort viele Freunde hatte. Meine erste Freundschaft in der DDR war die wahre und wirkliche Freundschaft mit Johannes Bobrowski. Durch ihn habe ich natürlich sehr viel erfahren. Er war sehr viel älter als ich, ich war sozusagen in seine Familie aufgenommen, und da konnte ich beobachten. Dann kannte ich Peter Huchel, den ich sehr liebte, und viele, viele andere. Die Dichter meiner Generation Volker Braun, Karl Mickel, Eddi Endler, Elke Erb, Sarah Kirsch, das waren meine Freunde und ich war ihr Freund. Und dadurch habe ich natürlich eine große Chance gehabt, etwas zu erfahren, und die habe ich wahr genommen.

Viktor Kalinke: Ihr Werk wird wahrgenommen im Feuilleton, in Rezensionen, in der literarischen Öffentlichkeit, Zeitschriften. Was erwarten Sie von der Kritik, vom Literaturbetrieb als Autor, als Dichter?

Christoph Meckel: Ich erwarte nichts. Ich mache eine klare und helle, helle und klare Trennungslinie. Ich will mit diesem Betrieb nichts zu tun haben, und es ist mir tatsächlich weitgehend gelungen, mich davon fern zu halten. Ich brauche ihn persönlich nicht. Ich brauche gar nichts außer der Literatur. Ich brauche weder Anerkennung, noch ihr Gegenteil, aber meine Bücher brauchen Aufmerksamkeit, insofern kann ich mich nicht ganz der Wahrnehmung dieser sonderbaren Vorgänge und Interessen entziehen. Wie gesagt, ich bin daran nicht beteiligt, aber für die Bücher wünsche ich, daß sie in der Gegenwart festgehalten werden.

Viktor Kalinke: Gab es kritische Reaktionen, die Sie überrascht haben, auf Ihre Bücher?

Christoph Meckel: Ja. Einmal, als ich schwer krank war, mit Schläuchen im Mund dalag, habe ich zufällig eine Rezension in der Zeit aufgeschlagen, die die Überschrift, „Christoph Meckel ist tot“ hatte. Die Rezensentin hatte ein Buch von mir verrissen und gesagt, also Meckel sei früher vielleicht mal eine Hoffnung der Literatur gewesen, jetzt sei er einfach bloß noch ein Kadaver. Und das in dem Moment, als ich wirklich fast gestorben wäre. Befreundete Leute schrieben dann an diese Frau, wie sie dazu käme, einen 35jährigen Schriftsteller für tot zu erklären. Und sie sagte, das sei ihr Recht, sie empfände es so. Und da dachte ich, wenn es so ist, dann geht sie da lang, die Rezensentin, und ich gehe da lang. Und so ist es mein Leben lang geblieben.

Viktor Kalinke: Gab es positive Überraschungen, Anerkennungen, die Sie bekommen haben, können Sie davon etwas erzählen?

Christoph Meckel: Ja, natürlich, es gibt, das erfährt jeder Schriftsteller, Rezensionen der extremsten, widersprüchlichsten Art, im positiven wie im negativen. Im übrigen äußert sich in den Rezensionen immer der Rezensent, man kann sehr genau feststellen, wer der Rezensent ist. Also der Rezensent gibt sich preis. Das finde ich sehr amüsant.

Viktor Kalinke: Zuletzt möchte ich gern wissen, wie Sie die Entwicklung im Buchhandel erleben. Das ist für mich als Verleger von Bedeutung. Ich denke da an ein Interview, das ich in der FAZ mit Michael Krüger gelesen habe. Ausgangspunkt waren die höheren Honorare für Übersetzer, die sich die Verlage nicht mehr leisten können, Publikumsverlage wie Hanser. In dem Interview hat Krüger die Zahlen von 2005 offengelegt. Es war das Jubiläumsjahr von Elias Canetti, es gab eine Sonderausgabe, und Hanser hat sage und schreibe 456 Exemplare von dieser Canetti-Sonderausgabe verkauft. Ich erinnere mich, daß Canetti in meiner Jugendzeit – das ist noch nicht so lange her – noch ein Geheimtip war. Masse und Macht mußte man gelesen haben. Es hat einem die Welt eröffnet und die neuere Geschichte, gerade die deutsche Geschichte. Wenn ich heute Studenten der Philosophie oder der Soziologie sehe, kennt kaum einer Masse und Macht. Hanser hat noch ein bis zwei Bücher im Jahr, die man als Bestseller bezeichnen kann, mit einer Auflage höher als 15000. Welche Entwicklung erleben Sie mit Ihren Werken auf dem Buchmarkt?

Christoph Meckel: Auf dem Buchmarkt ist der Leser die erstaunlichste Gestalt. Es haben sich Leser bei mir gemeldet, melden sich immer wieder, die außerordentlich viel und genau wahrnehmen. Und so ist es auch mit den Buchhändlern. Ich bin ganz auf der Seite der Buchhändler, mit Rezensenten will ich nichts zu tun haben. Der Buchhandel hat mit dem Rezensionswesen wenig zu tun. Eine gute Rezension heißt durchaus nicht, daß ein Buch verkauft wird. Also ich weiß es nicht besser, ich weiß, daß zum Überleben der Dichtung nicht allzu viele Verkäufe notwendig sind. Es genügt, daß die richtigen Leute die richtigen Bücher entdecken, in die Hände bekommen und festhalten. Und sie nicht wiederhergeben, das heißt also: nicht darauf verzichten diesen Bestand immer weiter zu vermitteln. Das Buch selbst wird wohl nicht einfach untergehen. Außerdem erneuert sich der Buchmarkt im Hintergrund, vielleicht nicht gerade im Untergrund, aber doch in ganz kleinen Verlagen in der Provinz. Das kommt immer wieder, das wird immer wieder kommen. Wie Sie angefangen haben z.B. waren Sie einer unter vielen jungen Verlagen, Verlegern, ja das wird immer besser und es wird immer deutlicher. Ganz wichtig in dieser Sache, und das ist die Hauptsache, das betrifft den Autor, den Buchhändler, den Verleger: er muß den langen Atem haben. Er legt seine Arbeit darauf an, den langen Atem zu haben. Langer Atem heißt lebenslänglich.

Viktor Kalinke: Danke für das Gespräch.