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Interview

Ein Gedicht soll in seiner Privatheit die Gesellschaft verraten ...

Gespräch mit Silvio Pfeuffer vom 18. 8. 2006

Viktor Kalinke: Meine erste Frage ist: an welchem Ort schreibst du? Wo hältst du dich da auf? Ich weiß, daß du, das erzählt man sich zumindest, oft in der Deutschen Bücherei sitzt. Schreibst du dort auch?

Silvio Pfeuffer: Also in der Deutschen Bücherei schreib ich erst einmal überhaupt keine Gedichte. Dort lese ich nur. Da würde mir auch gar nichts einfallen. Das passiert eher auf dem Weg zu Deutschen Bücherei oder von der Deutschen Bücherei wieder weg oder sonstwo in der Stadt. Da drängen sich dann wieder Gedanken auf, ziemlich unspezifisch, so ein diffuses Gefühl im Nacken, Stimmen und Sachen, die ihr Recht einfordern, was sich dann mischt mit dem, was man sieht. Aber ich schreibe praktisch nur an diesem Tisch. Das ist der Ort, an dem ich alles sammeln kann.

Viktor Kalinke: Der Tisch, an dem wir hier sitzen?

Silvio Pfeuffer: Genau.

Viktor Kalinke: Gibt es bestimmte Städte oder Orte, die für dich eine Rolle gespielt haben in deinem Schreiben? Mit denen du Erlebnisse verknüpfst oder Episoden in deiner Entwicklung, die dann für dein Schreiben eine Bedeutung gewonnen haben? Oder ist dein Schreiben unabhängig von Orten?

Silvio Pfeuffer: Im großen und ganzen ist es unabhängig. Poetisch arbeitet das Gehirn immer dort, wo ich mich gerade befinde, d. h., wo und wie ich mich gerade bewege. Bewegung ist ganz wichtig. Da können die Orte ganz unterschiedlich sein, sie müssen keine besondere Qualität aufweisen in geschichtlicher oder in soziokultureller Hinsicht. Das spielt praktisch keine Rolle. Dann gibt es natürlich noch Erlebnisse, über die ich schreibe, aber nicht als bloßes Abbild, sondern aus ihrer Anforderung heraus, sie dorthin zu bringen, wo sie hingehören – im Guten wie im Schlechten. Ich versuch’ dann aus dem Jetztzustand heraus zurückzugehen und zu schauen, was da war, den Dingen also rückwirkend einen Horizont zu geben. Das muß natürlich dann eine Vergangenheit widerspiegeln. Das kann sich dann wiederum damit mischen, was man in der Gegenwart wahrgenommen oder erlebt hat. Man weiß vorher nie, was dabei rauskommt. Das können ein, zwei Zeilen sein und dann – zumindest ist das bei mir so – erkunde ich, was ringsum passiert. Was ist da? Was war da?

Viktor Kalinke: Das führt mich schon zur nächsten Frage: Was sind Anlässe für dich zu schreiben? Sind das eher innere Vorgänge, Gedanken, Gefühle, oder sind das Eindrücke, die du irgendwo aufsammelst, die du registrierst in deiner Umgebung und die in dir ein Echo auslösen und dich zum Schreiben bringen?

Silvio Pfeuffer: Es gibt keine bestimmten Anlässe. Das ist ein stetiger Prozeß. Ich habe abends meine zwei, zweieinhalb Stunden, die mehr oder weniger fest eingeplant sind. Da verarbeite ich, was passiert ist. Ich warte auf das, von dem ich weiß, daß es kommen wird – eine Aufregung, irgend etwas, mit dem ich nicht fertig werde, von dem ich jetzt auch nicht genau weiß, was das ist. So etwas wie eine Spannung, von der ich nicht weiß, ob sie unangenehm oder angenehm ist. Und man soll sich dann ja gar nicht weiter darüber aufhalten, sondern man muß dann eben schreiben. Letztendlich zählt nur das Gedicht. Ob das jetzt gut ist, was taugt oder nicht, das merk ich dann am nächsten Tag.

Viktor Kalinke: Welche Rolle spielt Lektüre für dich, für dein eigenes Schreiben? Hat es mit der Lektüre, die du aufnimmst, zu tun? Oder ist es für dich davon gelöst?

Silvio Pfeuffer: Als ich angefangen habe, hatte ich sehr große Vorbilder. Das waren gerade in Deutschland nicht Leute aus meiner Generation, sondern die, die vielleicht zehn, zwanzig Jahre oder noch älter sind als ich, z.B. Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig, Gerd Neumann und Richard Anders. Dann gab es noch Gerhard Falkner, Thomas Kunst, und bei mir ist es vor allem Ulrich Zieger gewesen, der von vielen Lyrikern hoch geschätzt wird, aber ziemlich unbekannt ist. Da hab ich auch Zeit gebraucht, mich davon wieder zu lösen und eine eigene Sprache zu finden. Das ist letztendlich das Wichtige, wenn man anfängt Gedichte zu schreiben. Es mag am Anfang handwerklich gut aussehen, wenn man dann aber genauer drauf schaut, merkt man, es sagt eigentlich nicht viel. Da muß man sich auch selber reflektieren können, taugt das was oder taugt das nichts? Am Anfang hab ich viele Sachen wieder weggelegt. Bis ich gemerkt habe, daß die Texte gut sind und wenn ich einmal so einen guten Lauf habe, dann behalte ich es bei. Dann ändere ich nichts an der Umgebung. Ich behalte genau meine Rituale, damit das so läuft auf den Bahnen, wie’s grade läuft.

Viktor Kalinke: Du meinst die äußeren Umstände deines Schreibens?

Silvio Pfeuffer: Genau. Genau.

Viktor Kalinke: Kannst du diese Rituale ein bißchen beschreiben? Wie du das Feld vorbereitest sozusagen. Den Ort. Den Tisch, wo du schreibst. Die Zeit.

Silvio Pfeuffer: Ja, da liegt ein Blatt Papier und ich hab auch noch andere Sachen zu tun, komme nach Hause. Hör Nachrichten und dreh das dann nach und nach alles weg. Tja, dann hör ich Musik, das gehört nun mal dazu. Um aber richtig zu schreiben, muß ich alles wegdrehen. Innerhalb von einer dreiviertel Stunde dreh ich viele Sachen so langsam weg. Ich hoffe immer noch, daß sie mich ablenken werden, weil ich ja eigentlich doch nicht will. Es ist anstrengend und manchmal will ich mich gar nicht in diese Diffusität einlassen, die mich erwartet. Aber wenn man einmal drin ist, dann ist es gut. Das ist dann überhaupt nicht mehr zu bestimmen. Da denk ich dann nicht mehr über die äußeren Umstände nach. Ja, und das geht dann ungefähr zwei Stunden und dann mach ich irgendwann Schluß.

Viktor Kalinke: Du hast gesagt, an dem Abend, an dem du einen Text schreibst, hast du noch nicht das Gefühl, ob er Bestand haben könnte, sondern erst am nächsten Tag weißt du es. Liest du später noch einmal deine eigenen Texte oder dann stehen sie für dich schon fest?

Silvio Pfeuffer: Es hängt immer davon ab, welche ersten Worte, welche Zeilen man rauszieht. Wenn man eine Zeile hat oder zwei, von denen ich weiß, die stimmen, dann ist der Rest, wie ich schon gesagt hab, so ein Erkunden der Landschaft. Was ist da? Was war da überhaupt? Und das kann dann zum Schluß, wenn das Gedicht fertig ist, etwas ganz anderes sein als das, was man sich am Anfang darunter vorgestellt hat. Aber die zwei Zeilen sind dann darin aufgegangen. Das kann ich dann auch tagsüber machen, wenn ich Zeit habe. Dann schaue ich nochmal drauf. Das ist dann das rationale Begutachten von dem, was man gemacht hat. Die eigentlichen Ideen, die kommen bei mir aber nur abends. Das ist mein Ritual. Das liegt auch daran, daß Gedichte kurz sind. Wenn man Romane schreibt, Erzählungen, da ist es ganz was anderes. Da muß man sich, denk ich, früh hinsetzen. Das ist ein ganz anderes Schreiben.

Viktor Kalinke: Worin findest du den Maßstab, um deine eigenen Texte zu beurteilen? Oder anders gefragt: Was ist dein Ideal einer poetischer Form? Wann kannst du sagen: „Das ist gut“? Auch wenn das Ideal eigentlich gar nicht erreichbar ist.

Silvio Pfeuffer: Da muß ich von der Gegenwart ausgehen. Im Moment bemühe ich mich solche Metaphern zu finden, die man fast schon als reine Empirie lesen kann, die so klar sind, daß sie gar nicht mehr als Metaphern in den Vordergrund treten. Daß der Abstand zwischen Metaphern und dem was sie ausdrücken, also daß diese ganze Sinndeutung, die ja dem Leser überlassen bleibt, praktisch wegfällt. Sie müssen so klar sein, daß sie in ihrer Klarheit versinken, sich fast von selbst überflüssig machen. Wenn das gelingt, wirft es natürlich ein ganz anderes Licht auf die Alltagswörter. Das ist für mich ein Hinweis, daß man eigentlich vorsichtiger sprechen müßte mit den Wörtern, die man täglich gebraucht.

Viktor Kalinke: Kannst du ein Beispiel nennen.

Silvio Pfeuffer: Ein konkretes Gedicht oder...?

Viktor Kalinke: Nein, so eine Zeile oder eine Metapher, von der du grad gesprochen hast. Die so nah am Empirischen, am Alltäglichen ist, daß sie kaum noch als Metapher bewußt wird.

Silvio Pfeuffer: Das geht nur im Gedicht. Eine einzelne Metapher kann ich da nicht...
Jetzt ein einzelnes Wort herauszuheben, das würde dann auch nur als einzelnes Wort erscheinen. Das wäre ein lexikalisches Aufziehen. Das würde nichts auslösen.

Viktor Kalinke: Du hast vorhin gesagt, daß man, wenn man anfängt Gedichte zu schreiben, oft technisch von der klassischen, herkömmlichen Form herangeht. Wie war dein Anfang? In welcher Zeit, welcher Lebenszeit von dir entstand der Impuls Gedichte zu schreiben?

Silvio Pfeuffer: Ich hab ziemlich spät angefangen. Ich hab mir auch nie vorstellen können, daß ich irgendwann Gedichte schreiben würde. Ich hab natürlich welche in der Schule gelesen, Hölderlin und Novalis. Da hab ich auch viel auswendig gelernt, aber ich hatte niemals den Gedanken, Gedichte zu schreiben. Auch weil mir viele Gedichte nicht gefallen haben. Da ging es um gefallene Engel, Landschaften im Herbst, also dieser typische lyrische Mainstream. Ich will ja nicht verletzend sein, aber es gibt einen bestimmten moralisch-gefühlsmäßigen Wiedererkennungseffekt, an dem man ein Gedicht erkennt. Das war für mich eher langweilig. Deswegen hatte ich auch keine Vorstellung davon, daß ich selber mal Gedichte schreiben würde. Der Impuls kam ziemlich spät, als ich gemerkt habe ... wie drück ich jetzt bestimmte Sachen aus? Ich wollte ganz einfach wissen, was passiert ist, oder was mir passiert ist. Und habe dann bemerkt, daß die Sprache, in der ich das ausdrücke, eigentlich versagt. Wir können heute alles formulieren. Wir können Fragen stellen. Wir können diese Fragen beantworten. Jeder kann formulieren was er will, was er nicht will. Und trotzdem ist alles durcheinander und die Leute verstehen sich oft nicht, wenn sie miteinander reden. Das hat mich am meisten interessiert. Was geht im Umkreis von zehn Metern um mich herum vor? Man muß keine anderen Städte aufsuchen, um irgend etwas Interessantes zu finden, worüber man schreiben könnte. Da braucht man nur zehn Meter auf die Straße zu gehen, das reicht schon. Es ging für mich also darum, bestimmte Situationen klar auszudrücken, eher mit einem erkenntnistheoretischen Interesse als mit dem Bedürfnis, Gedichte zu schreiben. Das Frappante daran war für mich, daß es mit Hilfe der lyrischen Sprache sehr viel besser und vor allem schneller geht als in anderen Sprachen. Das ist noch so ein Punkt. Es geht schneller. Man kann sehr direkt auf etwas zu steuern. Etwas, was in anderen Sprachen, in anderen Formen, nicht geht. Da muß man zu viel Rücksicht nehmen.

Viktor Kalinke: Gab es bestimmte Brüche in deiner Biographie, die für dich ausschlaggebend gewesen sind, eben gerade Lyrik zu schreiben?

Silvio Pfeuffer: Ich hab eine ganz typische Biographie, wie sie andere in meinem Alter auch hatten. Ich bin in der End-DDR großgeworden, hab noch diese Agonie miterlebt für zwei drei Jahre. Dann kam die Wende. Warum soll man da von Bruch reden, wenn das so und so viel Millionen Biographien betrifft? Also ich fand das immer albern, jetzt die Wende zum Anlaß zu nehmen, eigens über sich zu reflektieren. Bei mir war es noch nicht einmal die Wende. Das kam dann erst so fünf, sechs Jahre später, in der Nachwendezeit. Die Wendezeit, das war rasant, aber nicht etwas worüber ich hätte schreiben müssen. Das war einfach ein Umstülpen.
In der unmittelbaren Zeit vor der Wende und in der unmittelbaren Zeit nach der Wende hat man auf etwas gewartet, etwas, was noch passiert. Und wenn man auf etwas wartet, dann ist es fast egal, was passiert, nur eben, daß etwas passiert. Und man konnte ja fast wöchentlich darauf warten. Der eigentliche Knackpunkt war: „Jetzt haben wir nur noch die Zeit.“ Das heißt, daß jetzt alles so weiter gehen wird, und alles, was man tut oder was man läßt, ist sofort repräsentierbar. Das war einer der ersten Gedanken. Als ob alles schon da gewesen wäre, bevor es überhaupt passiert ist. Diese totale Repräsentation, die ist mir zuerst aufgefallen in der „neuen Gesellschaft“. Und das war bei mir ein auslösender Punkt. Diese endlose Zeit, die sich daran hängt, an der es nichts zu bewältigen gibt, in der man irgendwie bewältigen muß, daß es nichts zu bewältigen gibt. Was greift den Körper eigentlich an, wenn er eben nicht so geschädigt wird, daß man darauf reagieren müßte? Dieser schleichende Prozeß hat mich interessiert. Das ist alles sehr abstrakt gesagt, weil ich ja ... ich muß das alles jetzt hochheben und versuchen, in ein paar Wörtern zu sammeln, in ein paar Sätzen auszudrücken.

Viktor Kalinke: Wobei die gesellschaftliche Zensur 1989 für die Ostdeutschen nicht unbedingt bedeuten mußte, daß es nicht wieder irgendwann eine Zensur geben kann. Die wird dann sicher ganz anders aussehen, nicht so gemeinschaftlich alle gegen die Alten, die am Ruder sitzen – die sind weg. Ganz so eindeutig wird der „Feind“ künftiger Zeiten nicht aussehen. Aber es könnte sein, daß es auch wieder eine umgekehrte Entwicklung gibt. Zumindest nehme ich das so wahr. Jetzt kann man alles repräsentieren, man kann alles sagen und trotzdem nichts sagen. Im Vergleich dazu hatte das Wort in der DDR eine ganz andere Bedeutung, weil es so aufgeladen worden ist. Falls man mal ein falsches Wort gebraucht hat, wurde das aufgebauscht, als würde die Welt untergehen. Und das kann sich auch wieder verengen. Ich nehme zumindest wahr, daß aus einem liberalen Staat zunehmend ein Staat wird, der sich am Sicherheitsdenken orientiert. Da ist es nicht mehr so weit bis zu einem repressiven Staat. Mit einer deutlich höheren technischen Perfektion als in der DDR. Es wird sehr spannend, was passiert, ob es tatsächlich gelingt, diesen libertären Fluß, in dem alles beliebig erscheint, zu retten. Ob es gelingt, ihn als Wert wahrzunehmen, nicht als inflationär und selbstverständlich.

Silvio Pfeuffer: Ich glaube, heute spüren das sehr wenige, weil der Großteil der Menschen durch die Medien so eingeschult ist, daß sie ... daß die Wahrnehmung so trainiert wird, daß man überhaupt nichts von sich aus spüren kann. Daß man dann irgendwie dagegen ist, funktioniert nicht. Das ist eine viel ökonomischere Erziehung als im Sozialismus, mit Parteireden usw. Die westliche Gesellschaft stellt sich wesentlich geschickter an, was Normierungen, Gleichschaltungen usw. angeht. Ich seh’ das ein bißchen gespenstischer, als ob Freiheiten und Zwänge wie Gespenster durcheinander hindurchgehen. Freiheiten müssen sich ja irgendwie ausdrücken, und die jeweilige Form, in der sie es tun, legt man ihnen dann als Zwang auf. Die Freiheit „will“ dann Zwänge, um sich als solche wiederzuerkennen. Das Reservoir an Handlungsweisen ist dabei unerschöpflich, quasi eine Materialschlacht. Außerdem löst sich die Kritik immer mehr in dem auf, was sie kritisiert. Man kann nicht mehr unterscheiden, was kritisiert wird, ob die Kritik nicht selber ein Teil des Kritisierens ist usw. Ich kann da keine klaren Konturen erkennen, wie das werden wird.

Viktor Kalinke: Du hast vorhin gesagt, daß die Lyrik für dich eine Möglichkeit war, sich zu verständigen. Ich war sehr überrascht, als du das gesagt hast, weil ich deine Gedichte als hermetisch empfinde. Also in dem Sinne, daß sie sich nicht sofort einem Leser erschließen, der deine Gedankenwelt nicht kennt und der nicht diese philosophische Vorbildung hat. Ich hatte den Eindruck, daß sie der Versuch sind, eine Privatsprache zu kreieren. Ein hermetisches Gebilde, das sich dennoch mitteilt und das auf einer anderen Ebene als der des Wortes oder der Wortbedeutung eine eine Aussage transportiert. Wie ist für dich das Verhältnis zwischen Philosophie und Poesie?

Silvio Pfeuffer: Ich habe viel Philosophie gelesen, Nietzsche, Levinas, Derrida u. a., aber es ist nicht unbedingt eine gute Nachbarschaft. Man darf auf keinen Fall versuchen, einen philosophischen Gedanken lyrisch auszudrücken. Das kann ich mittlerweile gut trennen. Das Entscheidende ist, denke ich, daß man versucht, seine Sprache nahezu körperlich mitzuteilen. Also wenn man ein Gedicht schreibt, dann ist man mit dem ganzen Körper dabei (hat Nietzsche schon gesagt...) Nur wenn das Gedicht körperlich ist, diesen physio-psychologischen Zustand widerspiegelt, nur dann ist soviel Klarheit da, auch soviel Ehrlichkeit, daß man mit jemand anderem darüber kommunizieren kann. Man kann dann nicht an der einen oder anderen Ecke herumschneiden, auf daß es am Ende klarer werde. Es ist das bleibende Risiko, ob es verstanden wird oder nicht. Das muß man dem Gedicht anmerken, dieses äußerste Risiko.

Viktor Kalinke: Wenn ich dich richtig verstehe, ist das Gedicht für dich der Versuch, einen Körper sprechen zu lassen, der eigentlich von Natur her keine Sprache hat, nicht sprachbegabt ist. So wie das Tier nicht sprachbegabt ist. Also dem Tier im Menschen oder dem Tier in dir selbst eine Sprache zu verleihen. Ist das zu sehr verkürzt?

Silvio Pfeuffer: Nein, das ist schon richtig. Die ursprünglichen Erregungszustände, die man hat, müssen direkt in die Wörter hineinspringen, müssen sich dort auskristallisieren, müssen die Wörter manchmal auch auswaschen, ihren Platz wegfressen, damit sie zum Stehen kommen. Das ist so ein Hetzen der Erregung auf die Wörter. So würde ich das verstehen. Das ist jetzt natürlich auch ziemlich ideal gesprochen.

Viktor Kalinke: Welche Rolle spielt für dich in diesem Zusammenhang die Geschlechtlichkeit? Der Körper ist ja etwa zu 80% Sexualität. Alles ist auf diese Funktion hin optimiert. Wie drückt sich das in deinen Gedichten aus? Welchen Raum gibst du der Geschlechtlichkeit in den Texten? Welche Form?

Silvio Pfeuffer: Wir denken natürlich immer in dieser binären Geschlechtlichkeit von männlich und weiblich. Was sich dann konkretisiert in Beziehungen, Beziehungsgeschichten, in die Brüche gegangenen Beziehungen, in Beziehungen, die zusammenhalten usw. Das sind Themen, die man sich vornehmen kann und die man auch abarbeiten kann. Gedichte, die dabei herauskommen, sind leicht verständlich, aber ich denke, es gibt noch eine andere Geschlechtlichkeit, die man nicht auf die binäre Logik von männlich und weiblich einengen kann. Geschlechtlichkeit als eine gewisse Mehrheit an Geschlechtlichkeit, von der ich nicht weiß, ob es nun eine oder zwei oder drei oder vier Geschlechter sind. Derrida ist der Frage in einigen Texten weiter nachgegangen. Diese Geschlechtlichkeit hängt an vielen anderen Bereichen, wo man sie nicht vermutet. Aber inwieweit diese Bereiche dadurch determiniert werden, das kann ich nicht sagen.

Viktor Kalinke: Noch einmal von der anderen Seite gesehen: Wer fühlt sich durch deine Gedichte angesprochen? Sind das eher Frauen oder eher Männer oder kannst du es gar nicht unterscheiden?

Silvio Pfeuffer: Das hängt von den Gedichten ab. Einige haben eher Männern gefallen und andere Gedichte eher Frauen. Ich hab auch grundsätzlich gemerkt, daß sie bei Lesungen besser ankommen, als wenn die Leute nur den Band lesen. Es liegt viel daran, wie man das liest, daß man den Gedichten noch mal die letzte körperliche Präsenz gibt. Nicht dadurch, daß man da sitzt und vorliest, sondern daß man sie in diesem Moment vorliest. Und das ist das Entscheidende: Ein Gedicht muß in diesem Moment funktionieren. Alles andere, was danach kommt, ist egal. Ideal wäre es, wenn es so gut ist, daß man es vergessen kann. Das wäre etwas ganz Großes, ein Gedicht zu schreiben, das man in dem Moment, in dem man es liest, vergessen kann. Zieger hat darin eine ganz große Kunst entwickelt. Die Gedichte gehen so direkt auf die Menschen zu, denen sie gelten, daß sie in diesem Moment auch nicht wieder zurückkommen. Das kann einen fassungslos machen, wenn man das liest. Die Momente sind ja eigentlich das Schöne auf Lesungen, wenn danach zwei, drei Leute kommen und sagen: „Das ist schön“ oder „Das hat mir Kraft gegeben.“ Na, dann schwebt man wirklich auf Wolke sieben. Das ist natürlich klar.

Viktor Kalinke: Bevor wir noch mal zur Resonanz kommen, noch eine Frage so zur Form. Was deine bevorzugte Form? Gedichte mit Reim und festem Rhythmus, Balladen wie bei Bertolt Brecht?

Silvio Pfeuffer: Das hat mich gestern eine Kollegin gefragt, ob ich reime. Und die Antwort ist: Nein, ich reime nicht. Und die Gedichte, die ich in dem Band Tausend Sonnen sind eine vermisste Million geschrieben habe, die sind im Großen und Ganzen eher kurz. Dreizeiler, Vierzeiler, keine klassischen Sonette. Auch manchmal nur eine Zeile zwischen Zwei- und Dreizeilern. Dreizeiler halten das Gedicht offen, die vierte Zeile bringt immer einen vorläufigen Abschluß. Nur selten kommen ein paar längere Gedichte vor. Ich denk, daß sich die Sachen ihre Form suchen, spätestens dann, wenn man sie zur Hälfte ausgegraben hat. Das Eigenständige der Form besteht nur darin, daß man sie einhalten muß. Ich wähl diesen Dreizeiler und diesen Vierzeiler und kann dann nicht mehr zweimal zwei Zeilen machen oder so. Im Moment versuche ich längere Gedichte zu schreiben, so Dreizehn-, Vierzehnzeiler. Immer so ein Block. Das ist wieder etwas anderes, weil sie allein durch die Länge schon eine halbe Erzählform annehmen, ohne daß man auf diese Erzählform voll einschwenken kann. Das geht nicht. Sobald das passiert, hat man seine ganze Lyrik verschenkt. Das ist so eine Gratwanderung. Shelley hat sehr lange Gedichte geschrieben, die Poesie darin ist das Großartige an ihr, und dieses Großartige noch einmal als Poesie. Man kann darin ertrinken. Wenn man das liest, möchte man auch richtig darin ersaufen (Shelley ist ertrunken!). Und Keats hat zu ihm gesagt, der Schmetterling solle seine Flügel zusammenhalten – das ist jetzt nicht genau zitiert – also Lyrik dürfe man nicht ausufern lassen. Das Gedicht wird immer an eine Kürze gebunden sein. Man hat einen Raum zum Experimentieren, der ist aber örtlich und zeitlich begrenzt.

Viktor Kalinke: Eine Unterscheidung, die sich mir bei Lyrik aufdrängt, ist die, ob du dich mehr in der Gedankenlyrik einordnen würdest oder eher in der experimentellen Poesie, die in Lautpoesie übergeht?

Silvio Pfeuffer: Nee, wenn du diese zwei Stichworte nimmst, dann eher Gedankenpoesie. Nicht Lautpoesie. Ich kenn diese Tradition nur in groben Zügen und sie hat mich nie besonders angesprochen. Freilich assoziieren Laute mit Erregungen, man muß ja ständig darauf Rücksicht nehmen. Aber diese Vordergründigkeit wie in der konkreten Poesie finde ich albern.

Viktor Kalinke: Du hast dich eben abgegrenzt vom Erzählerischen. Sobald Lyrik ausufert, hat sie schon das Poetische verloren. Ich frag jetzt einmal anders: Wie siehst du deine Entwicklung im Schreiben? Du schreibst jetzt Texte, die ein bißchen länger sind. Könntest du dir vorstellen, irgendwann mal einen Roman zu schreiben?

Silvio Pfeuffer: Darüber hab ich auch schon ein-, zweimal nachgedacht. Ich weiß es nicht. Ich kann es im Moment nicht sagen. Ich habe noch nicht die Zeit. Das erfordert eine ganz andere Einstellung zu dem, was man schreiben will. Da muß sich das Thema abgesetzt haben. Ich glaub, daß es bei mir so sein müßte, daß ich mich in einem gewissen Rationalismus nachmittags oder abends an den Computer setze. Ich müßte wahrscheinlich direkt am Computer arbeiten. Die typischen lyrischen Schreibgesten reichen da nicht aus, sind zu vereinzelt. Wovon ich vorhin schon gesprochen habe, diese Erregung in die Wörter hineinzubringen, muß dann über weite Strecken funktionieren. Sehr gute Romanschriftsteller können das. Wenn ich an Jirgl denke. Das hat eine unheimliche Gewalt und trotzdem eine Abgeklärtheit in der Darstellung, die einen zerreißen kann. Das ist Prosa. Ich hab auch viele Ältere gelesen, die jetzt 70, 80 Jahre alt sind, ziemlich unbekannte Leute. Karl Günther Hufnagel hat sehr große Erzählungen geschrieben. Er war der Letzte, den ich jetzt gelesen habe. Oder Peter Kurz. Das sind alte Frankfurter. Wer mir von den Jungen gefallen hat – ist ja ein Tip von dir gewesen –, ist Terézia Mora. Da steckt eine große Sprachgewalt dahinter, in der man versinken kann. Ich hab so ein Buch nicht erwartet. Gerade die vielen Irritationen, die sie macht. Und im nächsten Moment war das, was mich irritiert hatte, eben das, was eigentlich klar war. Man wußte nicht mehr, wovon man durcheinander gebracht ist und was man klar sieht.

Viktor Kalinke: Also hat diese Verwirrung, die durch die Lektüre poetischer Texte kommen kann, den Vorteil, daß sie auf einer anderen Ebene zugreift.

Silvio Pfeuffer: Ja. Es sind Abkürzungen. Wo man üblicherweise den längeren Weg gehen würde, kann Lyrik eine Abkürzung schaffen und einen ziemlich unvorbereitet auf ein emotionales oder politisches oder sexuelles – hängt alles zusammen – Gelände schauen lassen. Wo man ziemlich unvorbereitet ist. Wenn man den längeren Weg gegangen wäre, hätte man sich zu sehr vorbereitet auf das, was man sieht und hätte sich schon wieder zu sehr trainiert, wäre schon wieder zu voreingenommen, hätte seine alten Schulen spielen lassen und dann, wenn man dieses Gelände betreten hätte, hätte man all das geplappert oder nachgeplappert, wie man das von sich selber schon kennt.

Viktor Kalinke: Die Inhalte können ja eigentlich ganz beliebig sein. Die können politisch sein, die können körperlich sein, wie auch immer. Welche Rolle, denkst du, kann oder sollte die Lyrik in der Gesellschaft von heute spielen? Gibt es überhaupt eine Rolle, die sie spielen sollte?

Silvio Pfeuffer: Tja, ich denke, das Verhältnis ist paradox. In dem Moment, in dem man sein Gedicht schreibt, ist man aus allen Diskursen ausgestiegen. Diskurse sind aber gerade das, was die Gesellschaft zusammenhält. Man muß die Gesellschaft vollkommen verraten, um ein gutes Gedicht schreiben zu können. Und dann kommt die Frage danach, welche Funktion dieser Verrat haben könnte, dieser grundsätzliche Verrat an allem (mit dem man in der Tradition der Dichtung steht). Da fällt mir als Beispiel Tomaž Šalamun ein, der Zeilen schreibt wie:„Es ist logisch, mit einem Maschinengewehr einem Kind in den Mund zu schießen“. Wenn man das so liest … aber er zählt dann in dem Gedicht auf, was noch alles logisch ist. Er fängt mit den größten Banalitäten an und geht dann in der Argumentationskette immer weiter nach unten. Da wird auch solch ein Gedanke logisch. In der Realität wird das ja getan und man erschießt ja Kinder. Ich red’ jetzt politisch. Wenn man das liest, weiß man eben nicht, ob es eine Kritik ist oder böse Lyrik. Wenn man das genau in dieser Irritation hält, könnte man hier den Verrat an der Gesellschaft sehen und gleichzeitig überlegen – aber nur überlegen –, was die Funktion dieses Verrates sein könnte. Jeder Antwort, die darauf gegeben wird, muß ein neues Gedicht folgen, das die Antwort wieder verrät. Also ich seh’ da keinen Ausweg. Lyrik muß diese Ausweglosigkeit, die sie ins Abseits stellt, behalten. Auch wenn der Zuhörer gleich wieder die Reflexion aufschnappt: „Das ist ein Nischendasein.“ Welche andere Funktion sollte Literatur denn haben? Es gibt Gedichte, die an den Rändern ausufern, die sich schon so vorbereitet haben, daß sie in bestimmte Diskurse aufgenommen werden können, seien sie politischer oder historischer Natur. Sie legen also den Zuhörern oder den Kritikern bestimmte Fährten aus, auf die man leicht raufspringen kann um seine eigenen Reflexionswege durch das Gedicht zu wiederholen. Aber dann ist ein Gedicht nicht mehr als ein Schmuckstück für andere Diskurse. Das sollte nicht sein. Es erreicht nicht den Einzelnen, in dessen möglichem Sprachverlust. Das bringt nichts. Solche Gedichte werden heute gelesen und morgen vergessen. So wie man das mit den Nachrichten, die allen gelten, mehr oder weniger kennt.

Viktor Kalinke: Du hast vorhin gesagt, daß jeder Verrat der Lyrik an der Gesellschaft durch ein neues Gedicht beantwortet werden muß, so daß es kein Ende gibt. Ein Progreß ad infinitum. Das würde bedeuten, daß sich das Gedicht nur in dem Diskurs bewegt und zirkuliert wie der Lyriker selbst. Sollte das Gedicht über den Kreis derer, die Lyrik schreiben, hinausgehen? Sollte es hinein wirken in ein Publikum?

Silvio Pfeuffer: Freilich. Das steht vollkommen außer Zweifel. Das ist das große Problem, in dem sich die Lyriker bewegen. Sie haben nur dieses Gedicht geschrieben, das sich an viele unbekannte Einzelne richtet. Wie soll man sie bündeln, eine homogene Zuhörerschaft aus ihnen machen, wenn eben das der „Kommunikabilität“ des Gedichts widerspricht? Das ist ein Grund, weshalb Lyriker natürlich wollen, daß sie gelesen werden, aber vielfach kaum Möglichkeiten sehen, bestimmte Medien anzusprechen, über den Verlag hinauszuwirken. Sie haben nur die Lesungen, die sie vom Verlag bekommen oder wo sie eingeladen werden. Und es ist ein trauriges Bild, wenn zwanzig Leute dasitzen, wenn es hochkommt. Was eigentlich schon ein Erfolg wäre. Manchmal sitzen da noch weniger. Und man muß sich dann auf das Ereignis dieser Lesung beschränken. Also ich frag mich manchmal, so unangenehm das ist, wo die Maßstäbe sind, was besser ist, was größer? Wenn ich in einer Lesung drei, vier Leute erreiche oder wenn ein Gedicht in einer Zeitschrift abgedruckt ist, welche vielleicht Tausend lesen, was dann aber durchrauscht unter all den anderen Informationen – eine Zeitung, die am nächsten Tag auf der Straße liegt. Was hat das für einen Wert gehabt? Kein Mensch denkt mehr daran. Für mich brechen da die Kategorien zusammen, in denen man das Ganze diskutiert zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Wie viele Menschen erreicht man? Vielleicht passen die Kategorien, in denen wir das denken, nicht mehr auf die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen. Wenn man sagt, ein Gedicht soll in seiner Privatheit die Gesellschaft verraten, fragt man sich natürlich gleich: „Na, wer bin ich denn, der ich da die Gesellschaft verrate?“ Plötzlich bin ich nicht mehr der Einzelne, der durch die Straßen geht und etwas wahrnimmt und das hinschreibt. Sobald ich einen Satz äußere wie „Gedicht verrät die Gesellschaft“, muß ich mich natürlich selber fragen: „Wer bin ich denn, daß ich überhaupt, daß ich so etwas sagen kann?“ Das ist die andere Seite der Medaille und ist sehr unangenehm, eine Frage der Rechtfertigung vor sich selbst.

Viktor Kalinke: Was du jetzt noch mal angesprochen hast, kennzeichnet ja das Verhältnis der Medien zur Poesie und Lyrik. Davon hast du vorhin schon einmal gesprochen, daß die Medien in dieser westlichen Gesellschaft eher dazu dienen oder benutzt werden, um eine subtile Normierung herzustellen, so daß man gar nicht mehr merkt, wogegen man noch sein kann. Man schwimmt in der Gesellschaft mit und spürt keinen Widerstand mehr. Und jetzt noch ein anderer Aspekt der Medien: Medien als Transportmittel für Lyrik? Welche Rolle sollten für dich – sie sindt ja auch ein Teil der Medien – die Kritiker spielen? Da gibt es im Radio Sendungen und auch das Feuilleton in der Zeitung, die die Verkaufszahlen von Büchern, die oft nur eine mittlere poetische Qualität haben, steigern. Welche Rolle sollte die Kritik für die Lyrik spielen? Was erwartest du von einer professionellen Kritik?

Silvio Pfeuffer: Für die Medien spielt Lyrik nur eine kleine Rolle. Die stürzen sich natürlich auf Romane und Erzählungen, weil gerade das hoch im Kurs ist. Die Leute wollen Wiedererkennungseffekte und Orientierungen haben. Die wollen etwas Vertrautes haben. Nicht so wie in den 70er, 80er Jahren, als es eine schöne Bundesrepublik gab und man sich dann in die diversesten, kaputtesten Szenarien hinein leben konnte, nur um was Neues zu erleben. Um direkt auf deine Frage zu kommen, ich denk, daß jede Auflage, die unter fünftausend ist – vielleicht kann man die Grenze auch bei dreitausend setzen –, mehr oder weniger eine Privatlektüre ist, und daß alles, was darüber hinaus geht, etwas anderes ist. Das ist so ein Zusammenspiel von Medien und dem Buch, das geschrieben wurde. Erst das Buch das rezensiert ist, das in den Medien ist, ist auch wirklich dieses Buch. Ansonsten ist es nicht da. Wo sollte man es denn finden? Das ist es ja. Es gibt so viele Bücher. Wie komme ich zu dem Buch, das gut ist? Wenn ich da keine Information habe außer den Kritiken, die in der Zeitung stehen, dann werde ich dieses Buch auch nicht finden. Welche Rolle dann Kritiker spielen sollten – also was ich mir von der Kritik wünsche –, ist, daß sie sich mehr Zeit nimmt, daß sie nicht den Zeitdruck als Argument nimmt. Die Vielfalt dessen, was geschrieben wird, muß sich auch darin widerspiegeln, daß gerade die Literaturkritiker sich die Zeit nehmen, um genau zu schauen, was geschrieben wird. Daß sie sich nicht zu leicht von anderen, von losgetretenen Trends, die schon bestehen, beeinflussen lassen, sondern auch für das einstehen, was sie außerhalb dessen noch gelesen haben. Aber das ist vielleicht noch zu wohlwollend und aus einer gewissen Naivität heraus gesagt. Literaturkritiker sind heute zur Hälfte Journalisten. Und Journalisten wollen heute nicht mehr zur kritischen Distanz und zur Aufklärung beitragen, sondern überzeugen. Sie sind moderne Priester, die Herden bilden wollen. Wenn man heute Literaturkritik liest, hat man oft den Eindruck, eine Kritik hätte auch von einem anderen geschrieben werden können, als wollte sich jeder den größeren Teil von dem großen Kuchen „Öffentlichkeit“ abschneiden. Wenn man einmal eine gute Kritik bekommen hat, dann stehen in der nächsten Zeitung fast dieselben Kritiken, die praktisch austauschbar sind. Und das ist auch kein guter Dienst für das Buch, wenn es sofort so eine einhellige Meinung bekommt. Das heißt dann für den interessierten Leser, daß er sich überhaupt nicht darauf verlassen kann, was da geschrieben wird.

Viktor Kalinke: Eine letzte Frage. Du hast ja selbst ein Buch herausgebracht. Welche Resonanz hast du erfahren? Welche Kritiken gab es da? Du hast ja vorhin schon gesagt, was du bei Lesungen spürst, aber welche Reaktionen gab es von der professionellen Seite, von anderen Dichtern, Lyrikern, auf deine Texte? Vielleicht auch von dem einen oder anderen Kritikenschreiber.

Silvio Pfeuffer: Häufig rezensiert wurde das Buch nicht. Es gab eine Rezension in der Literaturzeitschrift „Ostragehege“. Positive Reaktionen kamen von Lyrikern hier aus Leipzig und aus Berlin, worüber ich mich sehr gefreut habe. Aber der große Erfolg, der Durchbruch war das nicht – hier spielt sicher auch eine Rolle, ob man einer Szene angehört (dem Literaturinstitut oder der jungen Berliner Szene z. B.), welche Leute man kennt usw. Da ziehen sich die Medien alle paar Jahre mal jemanden raus, wenn sie grad mal wieder einen neuen Star brauchen. Wer das dann ist, daß ist schon fast egal. Die Gedichte können gut sein, aber das ist nicht das entscheidende Kriterium. In vielen Fällen sind sie etwas besser als der Durchschnitt – was noch einmal ein eher schlechtes Licht auf die Literaturkritik wirft. Der Literaturbetrieb mit seinen Stipendien und Preisen ist irrational, man lebt ständig im falschen Film. Ich will damit nichts zu tun haben. Wenn man beginnt Gedicht zu schreiben, um den großen Durchbruch zu haben, sollte man gar nicht erst beginnen. Das ist nicht das Entscheidende. Entweder es passiert oder es passiert nicht. Ich habe erst ein Buch. Ich kann mir vorstellen, daß andere und zwar sehr gute, überragende Lyriker wie Ulrich Zieger, Gerhard Falkner, Thomas Kunst, Richard Anders, Thomas Böhme u. a. – die von der Literaturkritik konsequent ignoriert wurden und werden –, daß diese Dichter sehr viel mehr durchmachen mußten. Ich hab mit meinem Buch noch nicht diesen großen negativen Erfahrungsschatz darin, daß ich mich darüber jetzt verbittert zeigen müßte oder so. Das hab ich nicht.

Viktor Kalinke: Ein Vorteil?

Silvio Pfeuffer: Das ist auch ein Vorteil, ja. Wenn das Buch einmal gedruckt ist, das ist was Neues, was man da in der Hand hält, vor allem beim ersten Mal. Aber das legt sich langsam, man freut sich, dann ist das Vergangenheit. Ganz einfach. Das ist einfach Vergangenheit. Es ist ’ne unangenehme verschleißende Sache, sich über die eigene Unbekanntheit aufzuregen, wenn man am besten in der Anonymität arbeiten kann. Das paßt eigentlich gar nicht zusammen.

Viktor Kalinke: Dankeschön.