Wjatscheslaw Kuprijanow
Das Bein
Schukow geriet unter die Straßenbahn. Jetzt, konnte er gerade noch denken,
wird man überall herumerzählen, Schukow sei unter die Straßenbahn geraten.
Dann verlor er das Bewußtsein und hörte, schon unterbewußt, Stimmen, die
aus einer un-sichtbaren Dimension an ihn herandrangen.
„Er ist unter die Straßenbahn geraten!” „Das Bein ist ab!” „Dabei ist er
doch gerade noch gelaufen wie alle andern auch.” „Und jetzt liegt er da.
Vielleicht sollte man ihn aufheben?” „Der liegt hier doch schon den zweiten
Tag rum! Wie’s halt so ist.” „Das ist mir ein Spaßvogel! Jemand muß einen
Rettungswagen rufen!” „Schon geschehen.” „Na, dann ist’s ja gut.”
Schukow kam erst wieder im Krankenzimmer zu sich. Ihm wurde sofort klar,
daß er sich in einem Krankenzimmer be-fand, als er überall Krankenbetten
mit den darin liegenden Patienten erblickte. Neben ihm saß bereits jemand
in einem weißen Mantel, unter dem die Uniform irgendeiner Behörde zu sehen
war.
„Na also, jetzt sind Sie ja wieder klar! Ich warte ja schon lange darauf,
daß Sie wieder klar werden.” Der Mann warf einen vielsagenden Blick auf
seine Uhr. „Sie müssen mir einige Fragen beantworten. Sagen Sie bitte, wie
Sie hierher gekom-men sind. Wer hat Sie hierher gebracht?”
Schukow dachte nach, konnte sich aber an nichts erinnern. „Ich weiß nicht
mehr”, sagte er und dachte wieder nach. „Versuchen Sie, sich zu erinnern.
Es ist sehr wichtig.” Der Mann hielt einen Block in den Händen und wollte
etwas no-tieren. Er war richtig sauer darüber, daß er noch nichts notiert
hatte. „Nein, ich kann mich nicht erinnern”, antwortete Schukow gleichfalls
sauer. „Was soll das heißen, Sie können sich nicht erinnern? Sie sind aber
doch Schukow?” „Schon!” bestätigte Schukow. „Na also!” freute sich der Gesprächs-partner.
„Und da sagen Sie, Sie könnten sich an nichts erin-nern. Es wird schon überall
herumerzählt, Sie seien unter die Straßenbahn geraten.”
Schukow kam ins Grübeln. Doch da erschien der Arzt und brach das Verhör
schlagartig ab. „Sergeant! Ich habe Ihnen doch nur fünf Minuten gegeben.
Die fünf Minuten sind rum. Der Patient braucht Ruhe. Ich bitte Sie”, und
der Arzt wies dem Unteroffizier die Tür. Der Unteroffizier – Schukow dachte,
er sei vielleicht sogar ein Offizier – erhob sich widerwillig und ging zur
Tür.
„Wir kommen noch auf unsere Fragen zurück”, blaffte er zum Abschied. „Tun
Sie das nur”, nickte der Arzt, „aber erst, wenn der Patient in der Verfassung
ist, Ihre Fragen zu beant-worten. Wie fühlen Sie sich?” wandte er sich nun
bereits Schukow zu, als sich hinter dem Unteroffizier die Tür ge-schlossen
hatte.
„Schwer zu sagen”, antwortete Schukow, der allmählich begriff, daß er nunmehr
wirklich krank war – und das für lange Zeit. Der Arzt tastete nachdenklich
Schukows Bauch ab und sagte: „Gut, gut.” Schukow versuchte sich zu rühren
und spürte ein Nichts, eine Leere in einem bestimmten Teil seines Körpers,
etwas, das er als Leichtigkeit zu verstehen beschloß. „Eigentlich ganz gut”,
stimmte er dem Doktor zu, „aber wo ist mein Bein?” „Ihr Bein? Was für ein
Bein?” Der Arzt tat ganz verwundert und blickte an dem Patienten vorbei,
als ob sich dort irgend jemandes Beine tummelten. Schukow richtete sich
auf und blickte ebenfalls in die Richtung, doch war sein Bein dort nicht
zu entdecken.
„Mir scheint, das linke. Mein linkes Bein. Es ist weg.” Er versuchte, das
fehlende Bein zu bewegen und lenkte den Blick des Arztes auf die flache
Stelle an seinem Unterkörper unter der Decke. Der Arzt tat noch mehr erstaunt
und gab die er-staunliche Antwort: „Aber man hat Sie ja schon ohne Bein
eingeliefert. Wußten Sie das denn nicht? Sie sind doch unter die Straßenbahn
geraten! Man hat Sie ohne Bein eingeliefert, also werden wir Sie auch ohne
Bein entlassen. Wo sollten wir denn ein Bein für Sie hernehmen? Wenn man
Sie zusammen mit dem Bein gebracht hätte, könnten wir es Ihnen annähen.
Oder wir hätten es einem anderen angenäht, der nicht weniger dringend als
Sie ein neues Bein brauchte! Und derer haben wir bei uns genug. Wir führen
eine richtige Warteliste.” In der Stimme des Arztes schwang ein Vorwurf
mit. Schukow glaubte, als Folge des Unfalls habe auch sein Gehör Schaden
genommen, oder er sei noch immer nicht ganz zu sich gekommen. Doch da fand
er plötzlich die Kraft zu wütender Erregung in sich: „Wie ist das nun zu
verstehen? Mein Bein weiß der Teufel wem annähen? Was soll das heißen? Oder
hat man es gar schon jemandem angenäht?” „Was das heißen soll? Wissen Sie
etwa nicht, wie das mit den Beinen in unserer Ge-sellschaft abläuft? Wer
zahlt, kriegt auch ein Bein. Und Sie sind hier nun mal ohne Bein eingeliefert
worden, und da wollen Sie uns schon ihre Bedingungen diktieren! Sollten
Sie etwa nicht kapiert haben, zu welchem Zweck der Unteroffizier der Truppen
des Innenministeriums hier war? Er untersucht Ihren Fall im Zusammenhang
mit Ihrem Bein. Sie fragen, wo das Bein sei. Und er fragt, wo das Bein sei.
Und wir stellen Ihnen genau die gleiche Frage. Tun Sie uns nun schon die
Liebe und decken Sie Ihre Pläne auf. Das ist gar nicht zum Scherzen. Wir
haben von Ihnen ohne Bein rein gar nichts. Wir entlassen Sie, nachdem Sie
wieder bei Bewußtsein sind, um das Bett frei zu haben. Achten Sie also in
Zukunft auf Ihre Beine! Lassen Sie sie nicht kreuz-weise herumliegen! Beine
haben auf der Straße nichts verloren. Oder haben Sie schon mal Beine auf
der Straße herumliegen sehen?” Der Arzt geriet ganz außer sich. Schukow
begann, ihn in gewisser Weise zu verstehen. Seine Aufgabe ist es, Beine
anzunähen. Und da hat man plötzlich ein Nichts. Und Beine liegen ja nun
wirklich nicht auf der Straße herum. Einzelne Menschen, die man schon gewohnheitsmäßig
nicht beachtet, die liegen wohl dort rum. Aber ihn, Schukow, hatte man durchaus
beachtet, aufgelesen und dorthin gebracht, wo er hingehörte, nur das Bein,
das hatten sie offenbar in der Eile vergessen.
(aus: Im Geheimzentrum, © ERATA 2008, aus dem Russischen von Peter Steger )